Etwa ein Jahrzehnt, nachdem Eurythmics zu Stars geworden sind, bringt Songwriterin Annie Lennox mit Diva ihr erstes Soloalbum heraus.Dies war eine Gelegenheit für sie, sich eine musikalische Identität unabhängig von der, die ihre Fans bereits aus Eurythmics kannten, aufzubauen. Mit Diva etabliert Annie sich als Solokünstlerin und stellt ihr Songwriting und ihre kräftige Kontralto-Stimme in den Vordergrund. „Walking on Broken Glass" ist eine prägende Single des Albums und verdeutlicht, was Annies Songwriting so besonders macht -- der Einsatz von Kontrast, mit dem die emotionale Intensität eines Songs entwickelt und die Zuhörer auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle entführt werden.
Der lebhafte Einsatz von Saiteninstrumenten in „Walking on Broken Glass" täuscht über den emotionalen Aufruhr unter der Oberfläche des Songs hinweg. Der Song offenbart die turbulenten Emotionen des Versuchs, den Schmerz nach einer Trennung zu ertragen. Annie verwendet eine Explosion als Metapher, um die Intensität dieses Schmerzes zu zeigen: Sie lebt in einem Zimmer mit zerstörten Fenstern, läuft barfuß über die Glasscherben und wünscht sich, dass ihre verlorene Liebe kommt und sie rettet. Im Kontrast zu den heiteren und lebensfrohen Saiteninstrumenten erzeugt dieses Bild eine kognitive Dissonanz, in der der Text gegen die Musik ankämpft.
Aber nicht nur der Text erzeugt eine kognitive Dissonanz mit der Musik, die Musik kontrastiert von Abschnitt zu Abschnitt auch mit sich selbst. Was im Refrain als fröhlicher Saiteninstrumentabschnitt in C-Dur beginnt, folgt auf eine Trugkadenz zu einem opulenten A-Moll-Akkord am Ende jeder Strophe. Die plötzlichen Änderungen in Tonart, Struktur und Rhythmus verdeutlichen die Verzweiflung der Protagonistin, die zunächst entschlossen „auf Glasscherben läuft", dann aber gequält singt, „seit du mich verlassen hast, ist mein ganzes Leben in die Brüche gegangen". Diese harmonische Bewegung ereignet sich im Song drei Mal und wird jedes Mal intensiver. Beim letzten Mal ist der Wechsel zu A-Moll nicht mehr nur bildhaft, er stellt einen Appell dar: „Hol mich aus den Trümmern, rette mich vor der Explosion."
Es ist nicht ungewöhnlich, dass man das erste Soloalbum eines Songwriters als eine Art Erprobungsgelände sieht, den Erfolg mit früheren Musikprojekten vergleicht und bissige Fragen zur Arbeitsaufteilung zwischen dem Künstler und den anderen Musikerkollegen stellt. Dabei läuft man Gefahr, die musikalischen Beiträge jedes Einzelnen zu schmälern, und zwingt Künstler, sich für immer an dem Talent früherer Bandkollegen messen zu müssen. Bedauerlicherweise wurde Diva von vielen Rezensionen auf genau diese Weise bewertet. Und es ist wahr -- mit Diva hat sich Annie eine eigene Identität als Musikerin abseits des Ruhms von Eurythmics aufgebaut. Diva beweist aber nicht in erster Linie, dass Annie unabhängig von Eurythmics bestehen kann, sondern welche Bedeutung ihre Texte für all ihre Projekte haben. Als selbstständiges Album ist es eine Lehrstunde in Sachen Emotionen, im Kontext von Annies Diskografie ist es der Beweis, dass ihr Songwriting die tragende Säule ihrer Musik ist.
*Margaret Jones ist Multiinstrumentalistin, Songwriterin und Musiklehrerin aus Oakland, Kalifornien. Sie spielt Gitarre in mehreren Bands in ihrer Heimat, unter anderem in ihrem eigenen Songwriter-Projekt *M Jones and the Melee. Sie hat an der UC Berkeley in Musikgeschichte promoviert und am San Francisco Conservatory of Music unterrichtet.
„Annie Lennox SING campaign, Vienna 2010"* von Tsui ist lizenziert unter** CC BY-SA 3.0*.
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